EPISODE V
Metall auf Metall
Ein Interludium mit Kraftwerk
Dumpfe Vibrationen, grelles Neonlicht. Der Wagon taucht in einen dunklen Nadelwald ein. Flackernde Schemen meines kahlen Gesichts in der Scheibe. Schaufensterpuppen. Wir sind Schaufensterpupp -
Abrupte Stille aus den Knöpfen im Ohr. Auf dem Display nur ein X anstelle der Balken in der Empfangsleiste. Der Zug rumpelt durch die Waldfinsternis.
Wie stets, wenn etwas akut in Unordnung gerät, halte ich die Innenseite des Handgelenks an meine Nase und schnuppere daran. Flüchtige Akzente von Sandelholz und Kardamom, die verblühenden Basisnoten eines Flakons namens Beyond the Wall, den ich erst am Vortag bei Nägele und Strubell im Wiener Graben erwarb. Ich schnuppere nochmals, doch am Grundtenor meiner Verfassung ändert sich nichts: Deprimiert heute, irgendwie einsam, wieder mal. Da fährt man umher, und will allein sein, und dann kommt man an, irgendwo, und ist einsam. Egal, wo man aussteigt, am zweiten Tag drängt sich die immer gleiche Frage auf: Was in Gottes Namen mache ich hier eigentlich? In Gedanken noch bei meinem hastigen Aufbruch aus Wien, pochende Melancholie hier, überspannte Nerven dort, der Geist wie in einer habsburgischen Mehlschwitze gewälzt.
Der Wagon hat den Wald wieder verlassen, die Verbindung ist noch immer fort. Ich blicke in dem verwaisten Abteil um mich. Die Sitze der „České dráhy“ sind von einem hashtagartigen Muster aus türkisfarbenen und roten Streifen durchzogen. In den Zwischenräumen der Gitterstruktur befinden sich kleine Punkte in der Farbe von abgestandenem Bier. Tschechische Retro-Digitale. Ich denke über die Stille in meinen Ohren nach und über digitale Symbolik. Dass das weltweite Zeichen für Verbundenheit mit der Welt fast identisch ist mit dem Adidas-Logo, auch wenn der perfekte Empfang natürlich aus vier aufeinander aufbauenden Balken besteht und das Adidas-Logo nur aus drei. In Herzogenaurach können sie ihr Glück wohl trotzdem kaum fassen, kostenlose Werbung, auf jedem Smartphone, täglich, weltweit. Adidas verbindet die Menschen. Die Digitale treibt sonderbare Blüten.
Blick wieder aus dem Fenster, draußen zieht karstiges Land vorbei, Lichtbündel brechen durch die aufgetürmten Wolken.
Ein blaugrundiertes Schild mit der Aufschrift „Česká republika“ rauscht vorüber. Der Zug wird langsamer, dann Stillstand. Der Schaffner macht eine Durchsage in einer fremden Sprache, Leute steigen aus, zünden sich Zigaretten an. Ich nehme meinen Gehstock und trete auf den Bahnsteig. Lundenburg, Tschechien, zwei Gleise, ein kleines Bahnhofswärterhäuschen, daneben blüht an ausrangierten Wagons der Rost. Die weißgetünchte Grenzstation gleißt im harten Licht der Wintersonne. Lundenburg, Lundenburg, das klingt wie der Name einer gewonnenen Schlacht der KuK-Monarchie gegen die Franzosen oder irgendwelche Osmanen. Ich werde das googlen oder duckduckgo’en, ganz bestimmt - wenn ich wieder Empfang habe.
Neben dem Wärterhäuschen entdecke ich einen Getränkeautomat. Ich werfe ein paar Groschen ein, die Maschine schiebt eine Coca Cola-Dose über den Waren-Abgrund, fällt an Schokoriegeln, Erdnüssen und Taschenmuschis vorbei ins Nichts. Ich greife durch die Klappe nach der Dose, ziehe die Metalllasche nach hinten. Es spritzt und eine Cola-Fontäne benetzt meinen Sandringham mit fein schäumenden Tropfen. Ich werfe die Dose in eines der ehemaligen KuK-Gebüsche neben dem Wärterhäuschen, steige wieder ein und lasse mich in meinen Sitz fallen.
Die Moderne ist eine einzige Zumutung. Was mache ich hier, in meinem Trenchcoat und dem Gehstock und dem alten Reisekoffer mit Messingbeschlägen? Ich stilisiere mich als Reisender, aber letztlich bin ich auch nur ein räudiger Tourist, der sich mit Distinktionen einparfümiert. Über die harte Tatsache, dass ich ein Kettenglied dieser weltweiten totalen touristischen Mobilmachung bin, täuscht das nicht hinweg. Die Städte, die Küsten, die Inseln, alles schon zigfach durchschritten, ohne Stil, ohne Takt, ohne Klasse. Milliardenfache Kopien des europäischen Kulturerbes wabern in den Cloudspeichern, von Kamerasuchern anvisiert, abgeschossen, hochgeladen.
Die Fotographie ist die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts - schreibt Bernhard. Das Smartphone die des 21. Jahrhunderts - denke ich, während das schneeverhangene mährische Land an der Scheibe vorbeizieht. Noch immer Stille im Ohr und das X im Displayrand.
Irgendwann Halt in Brünn, Schlote, Fabriken, eine Spar-Filiale an einer Ausfallstraße. Als der Zug wieder anfährt, kreischen die Gleise, das ganze Abteil rumpelt und knarzt. Mit meinen Arschbacken spüre ich die Vibrationen dieser Maschine, für die der Begriff Eisenbahn treffender ist als dieses seltsam kurze Wort Zug. Das hier hat nichts zu tun mit den narkotisch gedämpften Siemens-Zügen der Deutschen Bahn, in denen man sediert und in seliger Wlan-Wohligkeit da sitzt und irgendwelchen Lehrerinnen oder Ingenieuren zuhört, wie sie vernünftig und gemäßigt über Politik und Deutschland und Anschlussverbindungen reden und dabei in eines der fluffigen Aufback-Croissants aus der Bordgastronomie beißen, dieser ganze nivellierte Mittelstandsgesellschafts-Scheiß eben.
Nein, mit der „České dráhy“ zu fahren heißt, in Kontakt zu kommen mit den Elementarkräften. Aus Eisen geformt und mit Feuer betrieben, ächzt die Maschine über Gleise, die von tschechischen Arbeitern unter Schweiß durch karges mährisches Land verlegt wurden. Und unter dem Eindruck des Kreischens und der Vibrationen an meinem Arsch verfliegt meine ganze Tristesse. Diese Eisenbahn bringt mich auf eine seltsame Art wieder in Kontakt mit dem Leben, und das erinnert mich irgendwie an den transzendentalen Charakter der Literatur. Denn sich die Welt literarisch zu erschließen, bedeutet nichts Anderes, als den Putz abzutragen und auf das blanke Mauerwerk der Geschichte zu starren. Den Blick auf den Rohstoff freilegen, mit den wesentlichen Materialien und Kräften in Kontakt kommen. Vielleicht liegt darin die große Chance der Literatur, gar des Pop, denke ich, in diesem tschechischen Zug sitzend.
Denn während sich der Zeitgeist im Zelebrieren digitaler Hedonismen erschöpft, besteht die einzige Möglichkeit zur Distinktion in einer Vermischung aus totaler Affirmation der Gegenwart einerseits und zugleich in der bewussten Abkehr davon durch antiquierte Verhaltensweisen oder Accessoires andererseits. Also “Ja” zur Digitale, “Ja” zum Instagram-Tourismus, aber nur in Verbindung mit ächzenden Eisenbahnen, mit Gehstöcken, mit langen weiten Trenchcoats, mit messingbeschlagenen Reisekoffern.
Das 21. Jahrhundert gewinnt nur in Rückkopplung zum 19. Jahrhundert an Wert und Bedeutung. Das Silizium der Gegenwart mit dem Eisen der Vergangenheit verschmelzen. Metall auf Metall.
Irgendwo hinter Brünn. Die Augen verlieren sich in weißgrauer Einöde, da beginnen plötzlich wie aus dem Nichts, die Synthie-Akkorde wieder in meinem Ohr zu sprudeln. Ich blicke auf mein Display, drei weiße Balken auf schwarzem Grund. Die Electro-Pioniere von Kraftwerk als Verbindung zwischen den Jahrhunderten.
Die Finger klopfen im Takt auf den Tisch vor mir, die Eisenbahn fährt eine Linkskurve und die blassen Umrisse einer Stadt schieben sich in das Fenster. Wie unter Strom erhebe ich mich aus dem Retro-Sitz, knüpfe mir den Sandringham zu und greife nach dem Gehstock. Trans. Europa. Express!