Gespräch mit Sophie Stein

Ich bin im Sommer 2023 nach Berlin gefahren, um die Autorin zum Tee zu treffen, die es mit ihrem abgefahrenen Debütroman “Amanecer” auf die Longlist des ersten Deutschen Popliteraturpreises geschafft hat. Sophie Stein ist eine junge, außergewöhnliche Stimme im deutschen Literaturbetrieb, die Wirklichkeit nicht einfach als gegeben voraussetzt. Ihr Roman wirkte auf uns wie aus der Zeit gefallen, und aus diesem Grund musste ich unbedingt mit ihr sprechen. Als ich ins Café Fleury komme, sitzt sie bereits mit einem Kännchen draußen an einem Bistrotisch und lächelt freundlich. Sie hat eine blaue Strähne im Haar und einen riesigen Rucksack dabei. Ich habe ihr Buch, das 2020 bei Diaphanes erschienen ist, in die Sakkotasche gesteckt.  

Das Gespräch führte Dr. B.

Dr. B: Sophie, warum bist Du hier in Berlin?

S: Nachdem ich früher mal in Berlin studiert und die Stadt eine Zeit lang gehasst habe, hatte ich nach sieben Jahren plötzlich wieder den Wunsch, genau hier und nirgendwo anders zu sein. Also bin ich hergekommen.

Dr. B.: Willst Du irgendwann hauptberuflich Schriftstellerin sein?

S: Ich weiß nicht, ob ich das aushalten könnte. Das Schreiben ist sowieso ständig präsent. Manchmal kann ich besser denken, wenn ich nicht denken soll bzw. wenn mich etwas vom Denken ablenkt. Wenn vielleicht siebzig oder achtzig Prozent des Verstandes beschäftigt sind. Mit dem verbleibenden Prozentanteil kann ich dann vielleicht mal einen Gedanken am Stück denken. Als wäre ich ein Tintenfisch mit zu vielen Armen, die mir die ganze Zeit ins Gesicht klatschen, wenn sie nichts zu tun haben. Wäre ich hauptberuflich Schriftstellerin, würde es bestimmt an einigen Tagen gut laufen, aber an anderen würde ich mir selbst im Weg stehen. Vielleicht wenn ich es irgendwann schaffe, mich zu strukturieren und zu entspannen.

Dr. B.: Was bedeutet das Schreiben für Dich? Was erwartest Du Dir davon?

S: Schreiben (oder Literatur) bedeutet alles und nichts. Es ist alles darin enthalten, und gleichzeitig ist nichts davon das echte Leben. Was ich mir davon erwarte, ist schwer zu sagen, vielleicht ist es das, was sich eine Pflanze davon erwartet, aus der Erde zu wachsen. Meistens schreibe ich aus einem körperlichen Brennen heraus. 

Dr. B.: Also schreibst Du einfach, wie eine Pflanze wächst. Warum ist Schreiben für Dich nicht echtes Leben? Vielleicht kannst Du mir helfen, die Aussage des Schriftstellers James Salter zu verstehen, der sagt, dass alles nur ein Traum ist, und nur geschriebene Dinge die Möglichkeit hätten, wirklich zu sein.

S: Vielleicht wiederholen wir beim Schreiben instinktiv ein Prinzip, mit dem wir im sogenannten echten Leben konfrontiert sind. Literatur ist auf ihre Art echt, so wie auch andere Signale in unserem Bewusstsein echt werden. Vielleicht unterscheidet sie sich vom täglichen Leben, das wir in unseren Körpern, in der physischen Welt führen, durch ihre Absicht und Richtung und vielleicht so etwas wie eine distanzierte Nähe. Im Alltag behindert man sich als mitspielende Figur selbst, ist zu involviert, sodass alles wie ein Traum an einem vorbeirauscht. Aber im Text ist alles reduziert, vom Hintergrundrauschen bereinigt, man kann etwas erleben, ohne mehr als ein paar Buchstaben in sich aufnehmen zu müssen, man formt die imaginierte Welt aus eigenem Material heraus. Aufgrund der Distanz ist man den Dingen näher. Vielleicht ein bisschen wie beim Theaterspielen. Weil die Emotion nicht im klassischen Sinne echt oder die eigene ist, ist sie umso wirklicher.

Dr. B.: Hat Schreiben für Dich einen körperlichen Aspekt?

S: Schreiben und Nicht-Schreiben lösen bei mir körperliche Reaktionen aus. Schreiben fühlt sich wie ein Crush an, mit Schmetterlingen und Messern im Bauch, der seit über einem Jahrzehnt nicht aufhört und um den alles kreist. Manchmal sind es Angstsymptome. Manchmal Symptome des Vermissens. Und manchmal fließt alles Zersplitterte zusammen und man befindet sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb von Denken und Fühlen; Denken und Fühlen sind in sync und verdichten sich auf einen Punkt, schnurren auf 26 nackte Schriftzeichen zusammen. 

Dr. B.: Hast Du spezifische Schreibroutinen? 

S: Nichts, was ich länger als ein paar Wochen durchziehe. Ich habe mal eine Zeitlang versucht, mich pro Tag eine Stunde mit dem Text auseinanderzusetzen, möglichst nicht weniger und nicht mehr als diese eine Stunde war die Regel. Das kann ganz hilfreich sein, um sich nach einer Blockade wieder ans Schreiben heranzuführen. Manchmal traue ich mich auch monatelange nicht, den Laptop zu öffnen. Dann ist es besser, sich anderen Tätigkeiten zuzuwenden, anstatt es weiter zu forcieren und immer verkrampfter zu werden, aber meistens mache ich trotzdem letzteres. Zurzeit schreibe ich so viel wie eben klappt und lasse dabei aus irgendeinem Grund eine Stoppuhr laufen, die ich bei der nächsten Session wieder auf 0 stelle. Zwischendurch schreibe ich auch mal einige Tage gar nicht, das hängt immer davon ab, ob ich gerade euphorisch oder verzweifelt bin, dazwischen gibt es wenig.

 Dr. B.: Seit wann schreibst Du fiktionale Texte und vor allem warum? 

S: Dass ich mit der Intention geschrieben habe, eine längere Geschichte oder einen Roman zu verfassen, fing an, als ich zehn war. Vorher habe ich mir die Geschichten im Kopf erzählt und wurde meist über längere Zeiträume von ihnen begleitet, ich habe natürlich auch selbst darin mitgespielt, war eine Figur und bin durch die von Fiktion durchtränkte Welt gelaufen. Es hat mir Spaß gemacht, diese Handlungsstränge parallel zum eigentlichen Leben laufen zu lassen, primär vielleicht ein Spielinstinkt, außerdem hatte ich das Gefühl, mich durch diese Verlagerung besser regulieren zu können und im realen Leben besser zu funktionieren. Vielleicht ist Schreiben die auf eine abstraktere Ebene gehobene und mit erwachsenen Motiven unterfütterte Weiterführung dieser ursprünglichen Spiele.

 Dr. B.: Woher kommen die Ideen für Deine Romane?

S: Ich stelle es mir wie ein inneres Netz vor, durch das ständig Weltenteilchen fliegen und das an manchen Stellen von Natur aus oder durch Erfahrungen klebriger ist, dort bilden sich Klumpen, die schwer werden und irgendwann abfallen. Oder man wirft absichtsvoll ein Netz aus, weil einem bestimmte Themen wichtig sind. Auch dann geht es ums Sammeln, Sichten, Reinigen, Anordnen. 

 Dr. B.:  Ich habe auf Instagram gesehen, dass Du zeichnest. Abgefahrenes Zeug, im besten Sinne. Kannst Du Deine Zeichnungen etwas beschreiben? Verhalten sie sich auf irgendeine Weise zu Deinem Schreiben? 

S: Manchmal, wenn ich stillsitzen und gleichzeitig vielleicht noch irgendwo zuhören muss, nutze ich das Zeichnen als Ventil. Warum dabei immer wieder gewisse Tiere, Gegenstände und Muster herauskommen, ist mir nicht ganz klar. Meistens zeichne ich drauflos, aus einer Unruhe heraus, einfach, um meine Hand bewegen zu können, und dabei bilden sich Muster, Pareidolien, bilden sich Bedeutungs-Cluster, und dann verstärke ich die Pareidolien, indem ich das, was ich im Ansatz erkennen kann, komplettiere und auszeichne, zum Beispiel einen Frosch oder einen Wal. Schließlich versuche ich, die entstandenen Grundelemente zueinander in Beziehung zu setzen, bis sich Untergeschichten ergeben, und dann halte ich das Blatt von mir weg und füge so lange hier und da etwas hinzu, bis sich auch im Gesamtbild eine Harmonie einstellt und die Binnengeschichten noch mal ein größeres Gesamtmuster ergeben. 

Vielleicht können Texte sich ähnlich bilden. Nur dass man mit viel kleineren und einfacher zugänglichen Bausteinen, den Buchstaben, arbeitet, was vieles erleichtert. Beim Malen und Zeichnen fehlen mir die handwerklichen Fertigkeiten, um kontrollieren zu können, in welche Richtung es geht, stattdessen werde ich mitgezogen, was etwas frustrierend sein kann. Am Ende vom Zeichnen ist mir meistens schlecht und ich habe das Bild als nervigen Abdruck im Auge; ich kann auch nicht gut damit aufhören, bis es fertig ist, obwohl es irgendwann unangenehm wird. Vom Schreiben wird mir nie schlecht. Schreiben ist die einzige Tätigkeit, auf der ich ‚hängenbleiben‘ kann und mich danach klarer fühle als vorher.

Dr.B.: Lesen und schreiben stehen für uns immer in Verbindung mit dem Tod oder sie verhalten sich mindestens irgendwie zu der Tatsache, dass wir nur ganz kurz hier sind. Wer schreibt denn sonst heutzutage noch ein Buch? Steht die Kunst für Dich – Zeichnen oder das Schreiben – in einem Verhältnis zum Leben oder Tod?

S: Sollte ich sterben, bevor mein drittes Buch geschrieben ist, hoffe ich, dass irgendjemand es für mich vollendet. Ich habe schon das gröbste Material und eine Menge Anweisungen dazu, eine Art Montageanleitung, man könnte es jetzt also eigentlich wie ein Moebel Horzon Regal zusammenschrauben.

Dr. B.: Das klingt doch schön. Du kannst das Literaturhaus Augsburg als Deine Nachlassverwalter einsetzen. Dein literarisches Erbe ist bei uns in den besten Händen. Es scheint mir allerdings, dass Du ausweichst. Deswegen versuche ich es noch einmal anders: Die wunderbare Psychoanalytikerin, Julia Kristeva, behauptete einmal, dass der Schreibvorgang das Eklig-Körperliche des Menschen „reinigt“. Sie nennt das „Abjekt“, was eigentlich nichts anderes ist als ein Todesbote im Leben, den wir versuchen zu verdrängen. In der Kunst findet er einen Weg an die Oberfläche. Für Kristeva wurzelt jede künstlerische Ausdrucksform in diesem Auswurf des Menschlichen, den die Kunst einerseits ausdrückt und zugleich versucht, loszuwerden. Für sie ist das ein essentieller Bestandteil jeglicher Form der Religiosität oder Spiritualität. Was denkst Du?

S: Also das beruhigt mich, dass ihr die Verantwortung für meinen Nachlass übernehmen werdet. Vielleicht täusche ich dann einfach meinen Tod vor und ihr müsst den Rest der Arbeit übernehmen. Ist denn für Kristeva das Schreiben damit eine Möglichkeit, sich (angenommen, Ekel wird durch Grenzübertretungen hervorgerufen) aus dem Verworrenen, Klebrigen und Endlichen (Tod als größte Übergriffigkeit und Grenzüberschreitung) herauszulösen und die Grenzen im Schreiben wieder herzustellen? Indem man das Verworrene, Klebrige und Endliche ausdrückt, hat man es bezwungen, weil es zu einem von uns getrennten Objekt bzw. Abjekt wird? Eigentlich muss der Mensch ja nicht vom Eklig-Körperlichen gereinigt werden, denn es gibt nichts Ekliges, außer wir stellen es uns vor. Aber wir müssen das Eklige wieder und wieder als Einbildung entlarven. Im besten Fall würde ich im Schreiben von (körperlicher und geistiger) Schuld und Scham befreien. So nah heranzoomen, dass der Ekel sich in seine einzelnen Farbpigmente auflöst. Ich würde mir wünschen, zugrundeliegende Prinzipien extrahieren und in einem anderen Kontext fiktional wieder aufbauen zu können, um sie als das sichtbar zu machen, was sie, unabhängig von ihrer jeweiligen Manifestation, sind, damit sie weniger absolut und machtvoll wirken. 

Manchmal spiele ich mit der Vorstellung, man könnte im Schreiben wirklich solche fundamentalen Rätsel knacken. Wie wäre es, wenn eine Geschichte wirklich eine Möglichkeit gefunden hätte, den Tod auszuhebeln? Vielleicht denke ich das ja manchmal. Erst hat es mich gegruselt, ich hatte monatelang Albträume davon und die Befürchtung, verrückt zu werden, wenn ich das als Thema nehmen würde, aber inzwischen macht es mir Spaß, daran zu denken, auch wenn es nur eine mögliche Geschichte ist. Es ist keine neue Religion, wobei es sich fast so anfühlt, eher ein prickelndes Gedankenspiel. Ich brauche noch ein bisschen Zeit, um das gut erklären zu können. 

Dr.B.: Was willst Du vom Leben?

S: Oha, krasse Frage. Ein singendes, klingendes Bäumchen. Also, das könnte man in vielerlei Hinsicht beantworten. Was ist der kleinste gemeinsame Nenner allen Strebens? Erkenntnis und Liebe? Ist das jetzt kitschig?

Dr. B.: Möglicherweise. Ist aber doch ok, oder?

S: Ja. Kitsch (im Schreiben) ist vielleicht oft ein Überschäumen von Emotionen bei einem gleichzeitigen Mangel an adäquaten Worten.  

Dr. B.: Ist Dein Schreiben romantisch?

S: Falls ja, war es keine bewusste Entscheidung. Ich verstehe, dass man in Amanecer romantische Züge erkennt. Da ist das Unheimliche, Träumerische, Bizarre und Unfertige, die Verwischung und das Aufbrechen von Grenzen, die Verarbeitung von Mythen und ein Fokus auf die subjektive Erfahrung. Wenn ich „romantisch“ höre, denke ich aber auch an Naivität, Unklarheit, Illusion, Wahn und geistige Umnachtung. Vielleicht wäre es so, in meinen Zeichnungen zu leben. Aber so will ich nicht schreiben. 

Dr. B.: Hast Du Schriftsteller-Vorbilder? Verwurstest Du ihre Werke in Deinen Texten?

S: Haha, dieses Wort. Ja, in Amanecer wurde ein bisschen was verwurstet, manchmal thematisch, manchmal als Zitate. Zum Beispiel Werke von William Blake, Samuel Taylor Coleridge und William Ernest Henley. Manchmal gibt es Schriftsteller*innen, bei denen ich eine Ähnlichkeit spüre oder von deren Schreiben ich mich besonders angezogen fühle, weil es etwas hat, das ich noch nicht erzeugen kann, ich denke da an Virginia Woolf, Gabriel García Márquez, Kazuo Ishiguro, Franz Kafka, Haruki Murakami, Siri Hustvedt, Vladimir Nabokov, Clarice Lispector, J.M.G. Le Clézio oder Ian MacEwan... Oh, fast hätte ich Katherine Mansfield vergessen. Mit ihr fühle ich mich nicht nur literarisch, sondern mehr persönlich verbunden.

Dr. B.: Woran arbeitest Du derzeit? Kannst Du uns eine kurze Passage aus einem Deiner neuen Romane, die Dir persönlich gut gefällt, schenken?

S: Ich schreibe gerade an einem kurzen Text für die Anthologie „Gegend Entwürfe“. Darin soll stehen, falls ich es nicht noch rausstreiche: „Kunst ist auf eine Weise blind. Man kann sie beschreiben, analysieren, theoretisieren. Doch sie bleibt immer sie selbst, der Ursprung, ein Primärwesen. Und Künstler*innen, sie erscheinen ebenfalls blind. Oder sie müssen eine halbbewusste Teilblindheit erzeugen. Kunst ist die schönste Form von Wahnsinn. Solange es Dinge gibt, für die noch keine eindeutige Sprache gefunden wurde, solange wir mit dem subjektiven Erlebnisgehalt unserer Erfahrungen weiterhin allein sind, brauchen wir sie.“ 

Sophie Steins Roman Amanecer erschien 2020 bei Diaphanes.

Nachdem wir unseren Kuchen gegessen haben, schauen wir noch bei Rafael Horzons Sommerfest in der Torstraße vorbei, weil Sophie Stein dort ein Sommerpraktikum als Schaufensterdekorateurin und Möbelpackerin absolviert. Der Möbelmagnat ist sehr zufrieden mit ihrer Arbeit und wird ihr ein hervorragendes Zeugnis ausstellen. Am Abend besuchen wir gemeinsam Friedrich Liechtenstein in seiner Troya Bar in Berlin-Mitte, um ihn als Juror für den Deutschen Popliteraturpreis 2024 zu gewinnen. Sophie Stein soll mir dabei helfen.

Weiter
Weiter

Interview mit Frédéric Schwilden