EPISODE l
Sternstunden des Müßiggangs
Müßiggang ist bekanntlich eine Droge, die so süchtig macht wie Sport, Pornos oder gestrecktes Ketamin. Einmal damit begonnen, ist es schwer, sich ihrem Bann wieder zu entziehen. Die Weigerung, produktiv zu sein und etwas zu leisten, verbunden mit den süßen Freuden der Zerstreuung in Büchern, in Musik, in der Kunst, in den ganzen obskuren Auswürfen der Gegenwart. Der Müßiggänger ist ein geistiger Streuner, der viel rumkommt.
So erst neulich wieder: auf der Recamiere liegend gucke ich tagträumend aus dem Fenster. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder, ich greife zu einem Buch und lese darin, ehe ich es wieder weglege, ich beginne zu onanieren, lasse es dann aber doch bleiben und scrolle schließlich durch Instagram, das ja immer mehr wie TikTok aussieht. Ich bleibe auf dem Profil einer ehemaligen Bekannten oder so hängen, deren bio „Astrology & GenZ life“ lautet. Für die jungen Leute sind Sternzeichen, Aszendenten und Mondphasen wieder the next big thing. In ihren Beiträgen geht es darum, wie sich Neumond im Krebs auf den Alltag auswirkt und dass man bei Rückläufigem Merkur lieber keine großen Unternehmungen planen sollte. In einem Post zum nächsten bevorstehenden Full Moon Circle klicke ich auf einen Anmeldungs-Link, der den externen Browser öffnet. Als ich das Fenster wieder schließe und auf Instagram zurückkehre, spült mir der Algorithmus prompt eine Werbeanzeige für ein „Astrologisches Coaching“ auf den Bildschirm. Eine Frau um die Fünfzig lächelt mich an. Ich berühre mit der Fingerkuppe ihr Gesicht, das Browserfenster öffnet sich abermals und ich lande auf der Seite von Ilona, die sich „Astrologische Beraterin“ nennt. Sie verspricht, meiner Seele Raum zu geben und mich an meinen Krisen wachsen zu lassen. Ich richte meine Haare und wähle ihre Nummer. Eine weibliche Bariton-Stimme meldet sich, die sich erst mehrfach für den Anruf bedankt, um sich dann nach meiner Lebenssituation zu erkundigen. Eigentlich möchte ich auflegen, aber ihre tiefe prasselnde Stimme erinnert mich an einen Sommerregen, der in dicken Tropfen auf der Fensterbank herniedergeht, und so fange ich doch an zu reden. Ilona hört zu und am Ende vereinbaren wir einen Termin für eine Sitzung am Nachmittag. Ich habe ja eh nichts vor.
Zwei Stunden später. In meinen Bootschuhen poltere ich das Treppenhaus des versifften DDR-Mietshauses hinunter und trotte zur U6. Beim Warten beobachte ich eine Taube, die im Gleisbett an einem Chicken-Wing knabbert. Mein Magen beginnt zu knurren, die Bahn kommt, ich steige ein. Bis nach Alt-Tempelhof, wo Ilona praktiziert, sind es etwa acht Stationen. An der Haltestelle Mehringdamm halte ich es nicht mehr aus, der Hunger wird zu groß. Ich steige aus und schlängele mich durch die Massen aus EasyJet-Touristen und volltätowierten Kunst-Studentinnen aus Baden-Württemberg bis zu Curry36. Der Termin bei Ilona ist eh erst in gut einer Stunde. Also zweimal Wurst mit Darm bitte.
Während ich vor der Kreuzberger Imbiss-Institution warte, fällt mir am Nebenhaus mit der Nummer 38 ein Schild auf. Ich trete näher heran und lese, dass sich in dem Haus von 1917 bis 1935 die Hautarztpraxis von Gottfried Benn befand.
Entzückt von meiner Benn-tdeckung zücke ich mein Telefon und mache ein Foto. Ein Stück in Poesie gegossene Ewigkeit an diesem gegenwartsverlorenen Ort. Ingesamt macht das an der Ecke Mehringdamm/Yorckstraße gelegene Benn-Haus einen runtergerockten Eindruck. Die Fassade blättert an manchen Stellen ab, an anderen ist sie mit Graffiti übersät. Vor dem Späti im Erdgeschoss lungert das übliche angesoffene Partyvolk in schwarzen Netzoberteilen und Lackstiefeln rum. Es gibt Börek und E-Vapes zu kaufen.
„Zweimal mit Darm“, ruft es aus dem Curry36. Während die Wurst meine raue Kehle hinabfällt, sinniere ich am Stehtisch darüber, dass der Mehringdamm zu Zeiten Benns noch „Belle-Alliance-Straße“ hieß, was natürlich viel schöner und mondäner klingt. Kauend überlege ich, was das damals für ein Deutschland war und was heute wäre, wenn jenes politische Verhängnis, dem auch Benn anfangs verfallen war, nicht seinen Lauf genommen hätte. Ich besudele meinen Sandringham mit Currysauce, aber es ist mir egal in diesem Moment. Wenn das alles nicht gewesen wäre, frage ich mich weiter, hieße der heutige Mehringdamm dann noch immer Belle-Alliance-Straße, und wäre dies dann ein Ort wie jene vielbeschworenen Neckarauen, die - ach, lassen wir das, es führt ja doch zu nichts.
Mit dem Handrücken wische ich mir über den verwursteten Mund. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdecke ich eine Buchhandlung, rein da, eine gute Dreiviertelstunde ist schließlich noch Zeit. Drinnen riecht es nach protestantischer Selbstgeiselung und einem Schuss von „Philosykos“ von Diptique, der offenkundig von der einzigen Kundin im Laden ausströmt. In weißer Bluse auf schwarzem Rock steht sie am Regal mit den Gedichten und blättert in einem Band von Else Lasker-Schüler. Mit einer Armlänge Abstand von ihr und einer halben Errektion in der Hose ziehe ich Benns gesammelte Gedichte in der Klett Cotta-Ausgabe mit roten Leineneinband aus dem Regal. Die Frau blickt mich an und lächelt, ich verziehe meinen fettigen Mund irgendwie und gehe an die Kasse.
Wieder draußen auf dem Belle-Alliance-Damm. In einer halben Stunde soll ich bei Ilona in Alt-Tempelhof sein, aber für ein paar Verse in den Benn reinlesen ist immer noch Zeit. Ich eiere den Bürgersteig entlang und denke an die Frau von eben aus dem Laden, da erinnert es mir, dass Benn und Else Lasker Schüler einmal eine kurze, aber heftige Affäre miteinander hatten.
„Der hehre König Giselheer/ Stieß mit seinem Lanzenspeer/ Mitten in mein Herz“, dichtete sie damals als Liebesbekundung und in Anlehnung an die Figur aus dem Nibelungenlied in einer Zeitschrift. Kurz vor Benns Zeit in der Belle-Alliance-Straße begann die Affäre: er Mitte Zwanzig, ein gerade fertig promovierter Militärarzt und frischer Debütant eines ersten Gedichtbands, Lasker-Schüler bereits die berühmte Dichterin von Anfang Vierzig, die mit kurz geschorenen Haaren herumlief und sich in den Berliner Salons „Prinz Yussuf von Theben“ nannte. Gender-Rollenspiele und einen fast zwanzig Jahre jüngeren fuckboy - für Lasker-Schüler war das wilhelminische Berlin um 1910 die pure Ekstase.
Im scholzigen Berlin von 2024 kehre ich in der Yorckstraße ins „Cafe Wirtschaftswunder“ ein, setze mich an den Tresen und ordere Spritzwein. Der Wirt mustert mich und den Saußen-Fleck am Revers. Wortlos stellt er mir das Glas hin.
Ich schlage das Buch auf und beginne, »Kokain« zu lesen. Darin heißt es:
»Den Ich-zerfall, den süssen, tiefersehnten, Den gibst Du mir: schon ist die Kehle rauh, Schon ist der fremde Klang an unerwähnten Gebilden meines Ichs am Unterbau.«
Ich will es kurz machen: Aus dem einen Spritzwein sind ein halbes Dutzend geworden und aus ein paar Versen etliche Seiten geworden. Zu Ilona habe ich es an diesem Tag nicht mehr geschafft - der Merkur war wohl gerade rückläufig oder die Drogen einfach zu gut.