EPISODE IV

Die Legende vom eiligen Trinker

Mit Josef Roth nicht durch Wien

Es wird hier um Joseph Roth gehen, das habe ich mir fest vorgenommen. Was anderes kommt gar nicht in Frage, die Bücher sind gepackt, die Abläufe geplant, die Orte herausgesucht. Um Joseph Roth wird es hier gehen, ganz klar. -

Ich erwache vom gedämpften Klingeln einer Straßenbahn. Ein fremdes Zimmer, ein Fenster zur Rechten, durch die Vorhänge sickert gedämmtes Tageslicht. Angezogen und mit Schuhen an den Füßen liege ich auf dem gemachten Bett. Der Kopf dröhnt. Blind taste ich nach dem Handy auf dem Nachttisch, bekomme aber nur einen laminierten Zettel zu greifen. Die Frühstückszeiten des Hotel Regina in Wien. Ah, soso.

Ich hieve mich auf und stolpere ins Badezimmer. Aus meinem Mund rieche ich nach Käsekrainer und Red Bull. Näher kann man der österreichischen Identität als Piefke nicht kommen, denke ich und in meinen Ohren klingelt leise Fendrichs „I am from Austria“. In der Duschkabine ziehe ich meine Schuhe und die verrauchte Kleidung aus und stelle das Wasser an. Im gegenüberliegenden Spiegel des Waschbeckens blicke ich in mein aufgedunsenes Gesicht und meinen mittelprächtigen Schwanz. Schlaff hängt er herab, wie ein toter Fisch.

Der Plan war fix. Fünf Tage im Hotel Regina_ einquartieren, um mir das Wien Joseph Roths zu erschließen. Der Koffer war entsprechend gepackt: Roths Erzählungen mitsamt seiner berühmten „Legende vom heiligen Trinker“, sein Novellen-Debüt „Das Spinnennetz“ und der Reportagen-Band „die Menschen im Hotel“. Die Abläufe hatte ich mir klar strukturiert: mit der Januarsonne um siebenuhrdreißig aufstehen,  mit Roth unterm Arm in eines der Ringstraßencafes, Lektüre von neun bis zwölf, zum Mittag Frittatensuppe und Saftgulasch. Nach einem Schläfchen im Hotel hoch in den Neunten, abermals Lektüre bei Mokka von zwei bis fünf. Abends moderater Alkoholkonsum, maximal drei Spritzer in einem Heurigen oder im Kleinen Cafe am Franziskanerplatz. Spätestens um elf ins Bett.

Beschwingt betrat ich bei meiner Ankunft das „Regina“, jenes Grandhotel, dem David Schalko vor einigen Jahren ein gleichnamiges Buch widmete. Der servile Portier überreichte mir den Schlüssel zu Zimmer 116, erste Etage, ganz hinten am Gangende, direkt neben dem „Stefan Zweig“-Zimmer. Ich warf den Koffer aufs Bett, griff nach dem „Spinnennetz“ und stromerte gleich los ins Schwarzenberg am Kärtner Ring. Es war ein bitterkalter Tag im Jänner, ein scharfer Wind peitschte mir Schneeflocken ins Gesicht. 

Im Spiegelsaal des Schwarzenberg herrschte gedämpfte Betriebsamkeit. Tassengeklimper, Stimmengemurmel, dort ein Hüsteln, da ein Räuspern. Teller kamen und gingen, Terrinnen traten auf und Schüsseln ab, der Oberkellner dirigierte das Porzellan-Konzert, nahm zwischendurch Bestellungen auf oder kassierte ab: „Was hättens gern, Siebzehnachtzig machts, bitte danke habe die Ehre“. „Baba und foi net.“

Draußen zuckelte die Bim mit imperial grundierter Gemütlichkeit über den Ring.

Die ersten drei Tage ging das so, alles lief wie geplant. Gestern dann erwischte es mich. 

Nach der Nachmittagslektüre ging ich nicht wie sonst die Währingerstraße runter und an der Freyung vorbei in Richtung Kleines Cafe. Da ich einen kurzen Abstecher ins Viktor Frankl-Museum machte, ging ich danach die Alser Straße entlang und bog sodann auf die Landgerichtsgasse ein. Dort erregte der von einer schlichten Eleganz getragene Schriftzug des “Cafe Bendl” mein Interesse. Ich schluckte und trat ein. In der urigen Stube, in der die Tapeten von den Wänden blätterten, tummelte sich ein interessantes Volk. Linke Kunststudenten und Schauspielabsolventen saßen neben rechten Burschenschaftern. Dazwischen ein paar gestrandete Alkoholiker und Politiker aus dem nahegelegenen Parlament  - mitunter auch in Personalunion. Alle schienen gut drauf und halbwegs miteinander klarzukommen, was heute ja eher die Seltenheit ist. Ich setzte mich neben die Jukebox, aus der Johnny Cash röhrte, und beobachtete ein seltsames Ritual. Ständig warfen sich Leute gegenseitig von ihren Tischen aus mit Bierdeckeln ab. Nach einigen Minuten bekam ich von einer Frau an einem Tischen auch einen Deckel ins Gesicht. Sie winkte mich zu ihrer Gruppe an den Tisch, wo sie mir erklärte, dass dieses Abwerfen ein Anbandelungsritual sei, das es so nur im Bendl gäbe.

Ein Spritzer folgte auf den nächsten, die Bierdeckel flogen. Danach Aufwachen mit angezogenen Schuhen im Hotelbett. Uff. 

Mir wird schwarz vor Augen. Das Wasser ist von warm auf kalt gewechselt, ich gehe in der Dusche in die Hocke, um nicht wegzuklappen.

Ich trockne mich ab, putze mir die Zähne, zwänge mich in die verrauchten Klamotten und wanke aus dem Hotelzimmer. Es ist bereits Nachmittag, ziellos laufe ich in Richtung des Fünften. Mir tut alles weh; muss essen, muss trinken, was mache ich hier und warum ist da eigentlich ein riesiger Senf-Fleck auf meinem Trenchcoat ? Ah, der Käsekrainer, so war das wohl. 

Vor dem Josefstadt-Theater passiert es dann: ich bleibe stehen und betrachte den Aushang eines Thomas Bernhard-Stückes. Aus den Augenwinkeln nehme ich einen älteren Herrn wahr, der im gleichen Moment an mir vorübergeht.  Mit den Händen hinter dem Rücken zusammengefaltet läuft er wie eine Bühnenfigur, inszeniert, theatralisch. Er geht die Josefstädter Straße hinunter in Richtung des Ersten. Instinktiv folge ich dem Mann, irgendwas muss mit dem los sein. Ich wechsle die Straßenseite, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. An der Ecke Josefstädterstraße - Lange Gasse bin ich mir dann sicher. Legen Sie es mir ruhig als billige Kolportage aus, aber ich versichere Ihnen, dass es sich so zugetragen hat: direkt vor dem Josefstadt-Theater, in dem an besagtem Tag auch noch ein Thomas Bernhard-Stück aufgeführt wird,  ist mir der berühmte Theater-Intendant Claus Peymann begegnet. 

Mit seinem navyblauen Mantel und dem leicht ausufernden Gang wirkt er wie ein angesoffener Adliger aus Südengland. Peymann, die Theater-Legende,  dreizehn Jahre lang Intendant des Wiener Burgtheaters und damit in dieser Stadt mit größerer Macht ausgestattet als der Bürgermeister und der Bundeskanzler zusammen. Peymann, der Skandalautor, in Interview stets von schonungsloser Offenheit und Härte. Peymann, der Kämpfer gegen die „Loden-Brigaden aus Hitzing“, die Bernhard und ihn in den 1970ern und 80ern als Republikfeinde beschimpften und ihnen den Tod wünschten.

Als die Fußgängerampel auf Grün schaltet, überquert Peymann die lange Gasse und geht geradeaus weiter in Richtung des Ersten. Mein Kater, mein Hunger,  der Senffleck, Joseph Roth, alles vergessen. Wie an Schnüren gezogen folge ich Peymann in sicherem Abstand von rund zwanzig Metern. Warum verfolgt man einen 87-jährigen Mann, mag an dieser Stelle eine berechtigte Frage lauten, auf die ich nur mit dem Einwand zu antworten weiß: warum nicht?

Peymann ist lebendige Wiener Geistesgeschichte. 

„In Wien musst erst sterben, dass sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst ewig.“, hat mal ein großer Wiener Zentralfriedhofs-Künstler gesagt, und vielleicht wird Claus Peymann die Ehre zuteil, als erster Piefke überhaupt in diese ewigen Weihen Wiens einzugehen. 

An der Landgerichtsstraße biegt Peymann links ab und verschwindet hinter der dem Eckgebäude. Wegen des langsamen Ganges des hochbetagten Peymanns mache ich alle paar Meter Halt und tue so, als würde ich die Schaufensterauslagen der Geschäfte begutachten. 

Ich mache folgenden Stunt, um mit meiner schlecht geschauspielerten Warenschau alle paar Meter keine Aufmerksamkeit zu erregen: ich laufe einen Block weiter, biege nach links in die Rathausstraße und dann rechts in die Lichtenfelsgasse, wo ich mich auf Höhe der Vino Weinbar hinter einer der Säulen des Arkadengangs verstecke Das ist ein großes Risiko, weil ich natürlich nicht weiß, ob Peymann hier langgehen wird. Wie ein räudiger Lump luge ich um die Säule und warte. Eine Mittagsgesellschaft hinter der Scheibe der Weinbar starrt mich an. Ich nicke ihr zu. Der Jännerwind ist unerbittlich.

Im Jahr 1969 lernt Peymann Thomas Bernhard kennen. “Vermutlich waren wir so etwas wie Freunde”, hat Peymann letztes Jahr in einem auf Youtube abrufbaren Gespräch im mit Harald Schmitt im Restaurant Eckel gesagt. In den zwanzig gemeinsamen Jahren mit Bernhard inszeniert er insgesamt sechzehn Uraufführungen von Bernhard-Stücken. Nach dem frühem Tod Bernhards 89 noch Dutzende weitere Stücke. Das deutschsprachige Theater der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist maßgeblich von Claus Peymann geprägt.

 Peymann kommt nicht. Ich laufe den Arkadengang vor Richtung Ecke Landgerichtsstraße, um zu sehen, wo er geblieben ist. Im gleichen Moment kommt er um die Ecke gebogen und biegt in den Arkadengang ein. Ich springe hinter einer der Säulen, Peymann kommt mir direkt entgegen. Von den Säulen des Arkadengangs verdeckt haste ich quer über die Straße in Richtung Rathaus hinunter. Autos hupen „Oida, bist du deppert?“, ruft mir einer hinterher. Passt. Im angrenzenden Rathhauspark verstecke ich mich hinter dem erstbesten Baum.  Kalter Schweiß steht auf meiner Stirn, die Wodka Bull zollen ihren Tribut. Ich muss mich kurz auf die Parkbank setzen, um mich nicht zu kotzen, aber da taucht auch schon Peymann aus dem Arkadengang auf und überquert nun ebenfalls die Straße zum Rathhauspark. Ich schaffe es nicht, aufzustehen, mein versoffener, schwitzender Körper braucht eine Pause. Da kommt mir die älteste und lächerlichste Spionage-Methode der Welt in den Sinn. Aus der Tasche meines Trenchcoats krame ich die Wochenendausgabe des „Standard“ und schlage sie vor meinem Gesicht auf. Über die Seiten hinweg beäuge ich Peymann, der gerade in den Park betritt. Mit kiesknirschenden Schritten kommt er auf mich  und läuft einen Moment später direkt vor mir an der Bank vorbei. Ich senke die Zeitung, fahre mir die Haare aus der verklebten Stirn und nehme die Fährte wieder auf. Ich gehe nun so dicht hinter ihm, dass der Januarwind eine Brise seines Parfüms zu mir weht. Ich identifiziere den Duft als „Russian Leather“ von Memo Paris, den ich in einem Herbst Anfang der Zwanzigerjahre trug, und für einen Moment wachsen vor meinem inneren Augen die Nadelwälder der Taiga mit ihren sibirischen Kiefern, Zypressen und Zedern.

Peymann jedenfalls: er hat den Rathhauspark verlassen und sich in das Bim-Häusschen direkt vor dem Burgtheater gesetzt. Dort sitzt er, der Grandseignur, das Telefon am Ohr und blickt auf seine alte Wirkungsstätte vor sich. Ich gehe an das Bim-Häusschen ran, bis ich direkt hinter ihm stehe, nur die Glasscheibe des Wartehäusschens trennt uns noch. Die große Frage: Ansprechen oder nicht? Ich hadere, überlege mir einen klugen Satz, eine feinsinnige Bemerkung, gar eine Bernhard-Anspielung?


Aber was soll man Claus Peymann schon sagen, es gibt ja eigentlich nichts zu besprechen und vermutlich wird er jeden Tag von irgendwelchen Kulturwichsern mit Thomas Bernhard-Zitaten genervt, denke ich. Im selben Moment fährt die Bim an. Die Tür öffnet sich, Peymann steht auf. Doch ansprechen! Ich gehe um das Häuschen herum. Peymann steigt ein. Na, auf dem Weg zum Hosenkaufen? Das werde ich Peymann fragen. Höhö. Peymann nimmt an einem Fensterplatz in der Bim Platz. Ich bleibe vor der offenen Tür stehen. Das Schließ-Signal kommt. Die Bim fährt weg. Mit Peymann. Ohne mich. Ich schwitze. 


Später am gleichen Tag mäandere ich den Quai des Donaukanals hinunter. Ich laufe unter der Aspernbrücke durch und bleibe dahinter an der Spitze stehen, in der die Wien in den Kanal mündet. Auf der anderen Flussseite gleitet ein Zug langsam zwischen Häuserzeilen heraus, rollt in konvexer Bewegung über eine der Kanalbrücken und verschwindet wieder hinter Glasfassaden auf der anderen Seite. Gleich werde auch ich in einen Zug steigen, ungewiss, wohin. Und dann kommt mir diese eine Stelle in den Sinn, die ich an meinem ersten Tag im Schwarzenberg sitzend laß:


„Jetzt bin ich nirgends geboren und nirgends zu Hause. Das ist seltsam und furchtbar, und ich komme mir selbst vor wie ein Traum, der keine Wurzel hat und kein Ziel, keinen Anfang und kein Ende, der kommt und geht und selbst nicht weiß, woher und wohin.“ 

Jetzt ging es ja doch noch um Joseph Roth - zumindest ein bisschen.

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Episode III. - Bicycle-Day im Lastenradland